Quartiersleben in Straßburg

Hautepierre. Hinter den Fassaden: Wurzeln und Wandel

von Lisabeth Fulda, Lea Setareh Geißler, Jonte Rasmus Heidorn und Gynna Lüschow
Hautepierre ist übersichtlich. Schon nach wenigen Tagen im Viertel trifft man bekannte Gesichter auf der Straße und grüßt sich. Insbesondere im Sommer findet ein großer Teil des gesellschaftlichen Lebens draußen statt. Öffentliche Plätze und Parks, die vormittags teils wie ausgestorben scheinen, werden nachmittags und am Wochenende bevölkert und mit Leben erfüllt. So auch in dieser Szene: Vor dem Kulturzentrum Le Galet treffen sich am frühen Abend einige Frauen. Dort gibt es Steinbänke, auf denen sie sitzen und sich lebhaft austauschen. An Abenden, an denen sie sich nicht um ihre Familien kümmern, nutzen sie die freie Zeit, um sich mit ihren Freundinnen zu treffen.
Frauen beim frühabendlichen Plausch
Hautepierre, das ist ein nordwestlicher Stadtteil in Straßburg, der in den 1970er Jahren entwickelt wurde und etwa 17.000 Einwohner*innen beherbergt. Den Masterplan entwarf der französische Architekt Pierre Vivien. Er konzipierte das Quartier in Wabenstruktur, in sogenannten „Mailles“, übersetzt „Maschen“. Ziel dieses Konzepts war eine effiziente und moderne Form der städtischen Planung. Die Struktur ermöglichte die Schaffung von Wohnungen, Schulen und anderen Einrichtungen in unmittelbarer Nähe zueinander und sollte eine bessere Trennung zwischen Autoverkehr und den Grünanlagen inmitten der Maschen schaffen. Insgesamt sind es sieben Maschen und der Parc de Sport. Zur besseren Orientierung und positiven Identifikation haben die Maschen weibliche Vornamen: Karine, Catherine, Jacqueline, Brigitte, Eléonore, Denise und Irène. Jede Masche hat außerdem eine spezifische Funktion: In der Masche Irène befindet sich ein großes Einkaufszentrum. Denise beinhaltet das Krankenhaus, das zu den größten Straßburgs gehört. Die nördlichste Masche ist konzipiert als Sportpark, gestaltet mit Fußballfeldern, Laufbahnen und einem Schwimmbad. In der Masche Catherine befindet sich das Kulturzentrum Le Galet.

Karine, Catherine, Jacqueline, Brigitte und Eléonore sind sogenannte Wohnmaschen. Hier finden sich Schulen, Kindergärten, angelegte Kleingärten und Flächen mit Urban Gardening, Spielplätze und verschiedene soziale Einrichtungen. Einzelhandel ist dagegen nur wenig vorhanden in Hautepierre. Viele Bewohner*innen kritisieren das. Es gibt keine Cafés zum Treffen und Verweilen oder andere öffentliche Konsumsphären, außer in der Masche des Centre Commercial.

Das ist Hautepierre
In den 1970er Jahren galt Hautepierre als eine verwirklichte Wohnutopie. Modern und begehrt war der Stadtteil. Heute hat das Viertel mit Stigmatisierung zu kämpfen. Das hängt womöglich mit dem hohen Anteil an Sozialwohnungen zusammen. Sozialwohnungen sind ein wichtiger Bestandteil französischer Sozialpolitik, um Menschen mit begrenzten finanziellen Ressourcen den Zugang zu bezahlbarem Wohnraum zu ermöglichen. Die Sozialwohnungen werden von verschiedenen Akteur*innen bereitgestellt und reguliert, darunter staatliche, regionale und lokale Behörden sowie Wohnungsbaugesellschaften. Hautepierre ist eingestuft als sogenanntes „Quartier Prioritaire“. Ein „Quartier Prioritaire“ wird von der Stadt identifiziert anhand von Kriterien wie Einkommensniveau der Bewohner*innen, Arbeitslosenquote, Bildungsniveau und anderen sozialen Indikatoren. Das Hauptziel besteht darin, gezielte Maßnahmen zu ergreifen und Ressourcen bereitzustellen, um soziale Ungleichheit und wirtschaftliche Benachteiligung zu verringern und eine Verbesserung der Lebensqualität der Bewohner*innen zu erreichen. So ist das Viertel vor unterschiedliche Herausforderungen gestellt, die es zu bewältigen versucht.

Doch es gibt in Hautepierre auch zahlreiche Anlaufstellen und Angebote für Menschen, die Lust haben, ihr Quartier mitzugestalten. Für Senior*innen gibt es im Kulturzentrum unterschiedliche Clubs, in denen sich ausgetauscht und Zeit miteinander verbracht werden kann. Im Quartier leben Menschen mit verschiedensten Migrationshistorien, die Bevölkerung ist in dieser Hinsicht sehr divers. Daher gibt es auch zahlreiche Französisch-Sprachkurse im Kulturzentrum Le Galet, aber auch Angebote wie Yoga oder Garten-Workshops. Auch die Jugend wird gefördert. Initiativen und Kollektive engagieren sich, um für junge Menschen Angebote und Zukunftsperspektiven zu schaffen. Das Engagement der Menschen im Quartier ist sehr stark und es ist möglich, sich in den verschiedensten Bereichen einzubringen.

Städtebauliche Maßnahmen werden ebenso vorangetrieben, um Hautepierre von dem Stigma „Quartier Prioritaire“ und seinem schlechten Image zu befreien und eine höhere Lebensqualität zu erreichen. So sollen die Maschen Eléonore und Brigitte renoviert werden. Viele der Wohnhäuser sind schlecht gedämmt und renovierungsbedürftig. Nicht nur aufgrund der immer weiter steigenden Energiekosten ist das ein großes Problem für viele Mieter*innen. Für die Renovierung der beiden Maschen werden viele Sozialwohnungen abgerissen. Inwiefern diese aber bezahlbar bleibt für die Bewohner*innen, ist noch unklar.

Hautepierre bietet interessante stadtplanerische Aspekte und eine spannende Architektur. Obwohl das Quartier mit einigen Herausforderungen zu kämpfen hat, zeigt dieser Stadtteil, wie seine Bewohner*innen durch ein starkes Gemeinschaftsgefühl und soziales Engagement dazu beitragen können, ihre Lebensqualität selbst zu verbessern. Und schließlich trägt dies dazu bei, dass Hautepierre für viele Bewohner*innen zum identitätsstiftenden Quartier wird.
Diese Bilder zeigen die beschriebene Vielfalt der Menschen und der Architektur des Quartiers

Das Stadterneuerungsprojekt: Ein Blick hinter die Fassaden

Mit dem Bau Hautepierres sollten Herausforderungen der Zeit angegangen werden – es sollte möglichst schnell viel Wohnraum entstehen und eine neue Urbanität geschaffen werden. Gleichzeitig wollte Pierre Vivien mit seinem innovativen Konzept den Problemen vorbeugen, die es in damals schon bestehenden sogenannten „Grands Ensembles“ – Großwohnsiedlungen mit oft über tausend Wohnungen – gab. 1969 wurde mit dem Bau begonnen, die Fertigstellung der Wohnwaben erfolgte um 1984. Das Projekt sollte neue Wege beschreiten und auf einen damals als modern wahrgenommenen Lebensstil ausgerichtet sein, insbesondere in Bezug auf Individualverkehr mit dem Auto. Studien zum Verkehr und zur Organisation des Stadtgefüges bestimmten somit die Wahl der Wabenstruktur. Der Autoverkehr wurde über Hauptachsen an den Maschen entlanggeführt und an den Außengrenzen der Maschen wurden Parkplätze eingerichtet, während innerhalb der sechskantigen Wohneinheiten verkehrsfreie Bereiche geschaffen wurden, in denen lediglich Fußwege vorhanden waren. Darüber hinaus wurden in jeder Wabe mindestens eine Schule und eine Sporthalle errichtet, so sollten kurze und sichere Wege insbesondere für Kinder gewährleistet werden. Jede Wohnmasche war nachbarschaftlich organisiert und architektonisch geprägt durch Überlegungen zum guten Zusammenleben. Ziel war es, innerhalb des Viertels kleinere Gemeinschaften von maximal 3.000 Menschen und so ein aktives soziales Gefüge zu fördern. Für Pierre Vivien bedeutete dies einen Bruch mit den architektonisch geradlinigen, stringenten Großwohnsiedlungen, die seit den 1950er Jahren in Frankreich gebaut worden waren.

Jedoch entwickelte sich das Quartier nicht im Sinne des Erfinders – und auch nicht im Sinne der Stadt Straßburg. Heutzutage wird immer wieder auf die Defizite im Viertel hingewiesen: Allen voran mangelnde soziale Durchmischung und hohe Erwerbslosenquote. Als ein Grund für die attestierte Homogenität im Quartier wird die Wohnstruktur mit einem hohen Anteil an Sozialwohnungen von fast 70 Prozent angeführt [1]. Weiterhin gab es im Viertel ein großes Problem mit der Instandhaltung: Viele Wohnungen, besonders Sozialwohnungen, wurden seit ihrem Bau in den 1970er oder 1980er nicht renoviert und waren nach vielen Jahren der Nutzung heruntergekommen. Bewohner*innen berichteten von schlechter Isolierung, Schimmel und mangelhaften Leitungen. So beschloss die Stadt Straßburg in den 2000er Jahren ein erstes Stadterneuerungsprojekt. Von 2009 bis 2015 wurden in den drei Wohnmaschen Jacqueline, Catherine und Karine umfassende Sanierungen vorgenommen. Besonders die Fassaden der Wohngebäude wurden hierbei instandgesetzt.

Nach Abschluss des ersten Projekts ist nun eine weitere Stadterneuerung in den Maschen Brigitte und Eléonore im Gange. Der Grundstein hierfür wurde im März 2020 gelegt, als der Vertrag zum Projekt mit der Agence Nationale pour la Rénovation Urbain (ANRU), die in Frankreich auf nationaler Ebene für Erneuerungsprojekte zuständig ist, unterzeichnet wurde. Die Bauarbeiten, die das Projekt beinhaltete, werden voraussichtlich bis 2030 andauern bei einem Investitionsvolumen von über einer Milliarde Euro [2]. Hierbei sollen Sozialwohnungen und weiterhin Mietwohnungen in öffentlicher Hand renoviert werden und neue Wohnungen gebaut werden. Es sollen öffentliche Einrichtungen renoviert werden und Grünflächen geschaffen werden. Darüber hinaus sollen die Maschen verkehrstechnisch zugänglicher gemacht und öffentlicher und privater Raum sichtbar getrennt werden. Es steht also eine umfassende Umstrukturierung des Viertels bevor. Wir haben mit Apolline Renaud-Taudière gesprochen, die in der Stadtteildirektion Hautepierre unter anderem für den Bürgerdialog zuständig ist.
Das Stadterneuerungsprojekt
Die Stadt Straßburg verfolgt mit ihrem zweiten Erneuerungsprojekt also große Pläne. Sie bewirbt das Vorhaben als partizipativ und bürgernah, als einen großen Gewinn für das Quartier. Doch es werden auch 306 Sozialwohnungen rückgebaut – ohne, dass neuer sozialer Wohnraum geschaffen wird. Und dies, obwohl eigentlich rege Nachfrage nach Sozialwohnungen herrscht. Das Ziel hierbei sei die Aufwertung und Förderung der sozialen Durchmischung im Viertel, erklärt Renard-Taudière. Spricht die Stadtdirektion von sozialer Durchmischung, so bezieht sich dies insbesondere auf unterschiedliche Einkommensgruppen. Nach Fertigstellung der Bauarbeiten wird sich zeigen, ob der gewünschte Effekt eintritt – oder ob sich das Quartier doch anders entwickelt als geplant. Schließlich kam es nach Errichtung Hautepierres auch anders, als die Planenden es vorgesehen hatten.

Die Meinungen der Bewohner*innen zu der geplanten Erneuerung sind unterschiedlich. Viele junge Menschen bewerten das Projekt positiv, sie freuen sich auf eine Aufwertung des Viertels. Gleichzeitig gibt es ein Bewusstsein dafür, dass mit dem Umbau auch Probleme verbunden sein können. Nicht nur während der Renovierungsphase, sondern auch danach ist für viele Bewohner*innen nicht klar, inwiefern sich das Leben im Viertel verändern wird. Über den Abbau von Sozialwohnungen dagegen ist vielen Bewohnenden nur wenig bekannt. Aufgrund der Komplexität der Thematik wollen sie sich vereinzelt hierzu nicht äußern. Schließlich treffen wir aber auch einen Bewohner, dessen Wabe bald renoviert werden soll. Er weiß nicht, wo er wohnen wird, und ist verzweifelt.

Stadterneuerungsprojekt? Schön und gut. Doch was es braucht, in einem „Problemviertel“ wie Hautepierre, sind nicht nur neue Fassaden. Was für dieses Quartier gilt, ist universell übertragbar: Wenn nur die physische Seite der Stadterneuerung behandelt wird, führt dies im besten Fall zu einer marginalen Verbesserung des Lebensstandards, zum Beispiel durch eingesparte Heizkosten. Doch die bestehenden gesellschaftlichen Probleme, mit denen die Menschen im Viertel konfrontiert sind, werden so nicht gelöst. Fehlende Integration, Armut, Arbeitslosigkeit, Rassismus, Drogenkonsum und andere soziale Missstände lassen sich nicht wegrenovieren.

Prekarität und Solidarität

Konflikte und Herausforderungen in Hautepierre: Womit haben Bewohner*innen zu kämpfen?
Denn genau dies sind die die Probleme, von denen die Menschen im Quartier berichten. Armut oder eine finanziell angespannte Lebenssituation stellt viele Bewohner*innen vor große Herausforderungen. Das Durchschnittseinkommen im Quartier liegt bei etwa 11.000 Euro im Jahr, was deutlich unter dem französischen Durchschnittseinkommen von etwa 21.000 Euro jährlich liegt [3]. Aymen und Ibrahim sind jung, beide sind in Hautepierre geboren und aufgewachsen. Sie scheinen ihre Jugend zu genießen, soweit es geht, sie lachen viel. Doch ohne Geld, so berichten uns die beiden, könne man nichts machen: Nicht Feierabend machen, nicht ausgehen, nicht gut essen. Viele junge Menschen bekommen das zu spüren, denn die Arbeitslosenquote in Hautepierre ist hoch: Fast 31 Prozent bei den 15- bis 64-Jährigen gegenüber einer Arbeitslosenquote von 19 Prozent in ganz Straßburg. Bei den 15- bis 24-Jährigen lag der Anteil im Jahr 2021 sogar bei 42 Prozent [4]. Diese Arbeitslosigkeit kann mitunter dazu führen, dass Bewohner*innen sich alternative Einkommensmöglichkeiten suchen und damit auch in den illegalen Bereich getrieben werden. Insbesondere der Drogenhandel ist in Hautepierre ein Problem. Bewohner*innen und Medien berichten von einer Zunahme verschiedener Drogenhandelsnetzwerke. Das wirkt sich auch räumlich aus, sodass bestimmte Gegenden und Wege von vulnerablen Bewohner*innen zunehmend gemieden werden.

Gleichzeitig ist die Arbeit im illegalen Handel eine wichtige Einkommensquelle für zahlreiche junge Menschen. Vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosigkeit und prekären finanziellen Situation, besteht für die Jugendlichen hier die Möglichkeit, ihre eigenen Umstände aufzuwerten. Die Arbeit in illegalen Milieus ist dabei für viele Bewohner*innen keine abgetrennte Sphäre des Lebens, sondern gehört zum Alltag dazu. Ihr haftet daher nicht notwendigerweise das Stigma der Kriminalität an und sie ist auch nicht unbedingt mit einer Zunahme von Gewalt verbunden. Im Gegenteil beurteilen die Jugendlichen Hautepierre insgesamt als sicheres Viertel. Ihre eigene prekäre Situation versuchen sie mit Humor zu nehmen und spielen gleichzeitig mit der Stigmatisierung von außen, indem sie diese überspitzen und in übertriebener Weise darstellen. Auf der anderen Seite ist die Zunahme krimineller Aktivitäten für viele Bewohner*innen auch eine große Sorge und sie befürchten die Konsequenzen für junge Menschen und das Leben im Viertel.

Das Stigma Hautepierres bezieht sich aber nicht nur auf illegale Aktivitäten, sondern ist auch mit der überdurchschnittlich hohen ethnischen Pluralität verbunden. Ein großer Teil der Bewohner*innen besitzt eine Migrationshistorie. Mitunter kommen ihre Vorfahren auch aus ehemaligen französischen Kolonien wie Algerien und Marokko. Viele Bewohner*innen erzählen von ihren Erfahrungen mit Diskriminierung. Dabei spielen ihre Hautfarbe, Religion oder ihre Lebensläufe immer eine Rolle.

Diese Herausforderungen prägen den Ruf Hautepierres. „Problemviertel“, „Vorstadtghetto“, „Straßburgs Banlieue“ – mit diesen Fremdzuschreibungen hat Hautepierre zu kämpfen. Das Quartier wird immer wieder in Verbindung gebracht mit Drogen, Kriminalität und Gewalt. Dieses Bild wird von außen projiziert und teilweise auch im Quartier reproduziert. Die Fremdzuschreibung kann zur Selbstidentifikation werden und es entsteht ein dialektisches Verhältnis zwischen diesen. Vor allem junge Bewohner*innen streben nach Statussymbolen und materiellen Prestigeobjekten und zelebrieren das “Gangsterimage“. Was bei all dem jedoch immer wieder betont wird: gegenseitiger Respekt gilt in Hautepierre als eine Tugend mit hohem Stellenwert. Zu Gewalt komme es nur, wenn Betroffene keine Alternative mehr sehen. Sie erzählen, es sei ein sicheres Viertel, man habe nichts zu befürchten. Das bestätigen auch andere Bewohner*innen. Und immer wieder sprechen sie von der großen Solidarität, die in Hautepierre herrscht. Die erschwerten Umstände tragen zu einem Gefühl des Zusammenhalts bei. Immer wieder gebe es Situationen, in denen Nachbarn aus Solidarität füreinander sorgen und in denen Familien einander generationsweise versorgen, was das Lebensgefühl und Miteinander in Hautepierre verbessert.
“On est Hautepierriens!“ – “Wir sind Hautepierrer!“
Die Menschen in Hautepierre teilen ein gemeinschaftliches Leben und auch eine gewisse Solidarität. Dies trägt zur Identifikation mit dem Ort bei. Die Bewohner*innen empfinden einen „sense of place“– sie verstehen sich selbst als Teil des Quartiers und erleben andersherum auch das Quartier als identitätsstiftend. Sie haben eine gewisse emotionale Bindung an diesen Ort. Repräsentiert Hautepierre vielleicht doch eine Art urbanes Dorf – einen Traum von Kollektivität, Solidarität und Gemeinschaft [5]? Oder ist Hautepierre das „Problemviertel“, als das es von außen dargestellt wird? Es ist spannend die Berührung dieser Dynamiken zu verstehen, in der Bewohner*innen stolz erzählen: „Je suis pas Français, on est Hautepierrien!“

Soziale Initiativen – Quoi de neuf?

Ist man vormittags in Hautepierre unterwegs, wirkt das Viertel wie ausgestorben. Doch sobald sich am Nachmittag die Tore der Schulen öffnen, kehrt Leben ein, denn Hautepierre ist ein besonders junges Viertel: 2021 waren 42 Prozent der Bevölkerung unter 25 Jahre alt [4]. Insbesondere die großen Innenhöfe der Waben bieten den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, sich nach der Schule zu treffen. Hier gibt es zahlreiche Spielgeräte und kleine Spielplätze, die von den Kindern genutzt werden. Dabei können sie von ihren Eltern in den angrenzenden Wohnhäusern im Auge behalten werden. In den Waben herrscht daher oft eine familiäre Atmosphäre und sowohl Kinder als auch Eltern sind täglich miteinander in Kontakt.

Aber nicht nur die zahlreichen jungen Menschen machen das Leben in Hautepierre aus. Es ist darüber hinaus von starkem sozialem und kulturellem Engagement geprägt. Zahlreiche Initiativen bieten eine große Auswahl an Möglichkeiten und werten das Leben im Viertel auf. Die Angebote umfassen dabei sowohl sportliche und künstlerische Aktivitäten, Senior*innentreffs und Frauenclubs, als auch die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen oder politische Initiativen. Das Kulturzentrum Le Galet kann dabei als Zentrum dieser Vereinslandschaft angesehen werden. Es liegt in der Wabe Catherine im nördlichen Teil Hautepierres und wird als Treffpunkt für Gruppen und für Veranstaltungen genutzt. Es steht den Bewohner*innen als Gestaltungsraum zur Verfügung und kann für eigene Ideen oder zur Vernetzung genutzt werden.

Doch nicht nur im Le Galet findet soziales Engagement statt, überall in Hautepierre gibt es soziale Initiativen. Insbesondere Gruppen, die sich auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen fokussieren, sind breit vertreten und wurden in der Vergangenheit immer stärker ausgebaut. Eine Verbindung zu diesen Initiativen ist schnell hergestellt und die Bereitschaft, von der Arbeit zu erzählen, groß. Wir treffen uns daher mit einigen von ihnen und sprechen über das Leben, die Wünsche und Perspektiven der Jugendlichen, aber auch über die spezifischen Herausforderungen in der sozialen Arbeit. Geleitet werden die Initiativen sowohl von Einheimischen Hautepierres und langjährigen Bewohner*innen, als auch von Menschen aus anderen Vierteln Straßburgs. Ihnen gemeinsam ist, dass sie Jugendlichen auf die eine oder andere Weise einen Raum bieten wollen, sich entfalten zu können und ihre Probleme zu bewältigen. Dies kann sich auf die Arbeit an gemeinsamen künstlerischen Projekten beziehen oder aber auf die Hilfeleistung in der Schule oder bei familiären Schwierigkeiten. Auch sprachliche Hilfen für bürokratische Angelegenheiten können mitunter entscheidend im Leben der Jugendlichen sein. Da zuhause oft spezifische Ressourcen fehlen, ist es von großer Wichtigkeit, diese Anlaufstellen vor Ort zu haben. Trotz der Probleme im Leben vieler Jugendlicher und der Bildungsungleichheit, die sich im Vergleich der verschiedenen Stadtteile Straßburgs zeigt, ist den Sozialarbeiter*innen wichtig zu betonen, dass die Ressourcen und Potentiale hier ebenso groß sind wie anderswo. In Hautepierre herrsche teilweise eine sehr spezifische Art der Kommunikation und sozialen Handlungslogiken, die sich von anderen Vierteln unterscheidet. Diese werden von den Sozialarbeiter*innen auch als „soziale Codes“ bezeichnet. Gleichzeitig sei den Bewohner*innen nicht bewusst, welche Qualitäten diese sozialen Handlungsmuster mit sich bringen und inwiefern sie sich von anderen Vierteln unterscheiden. Ziel der sozialen Initiativen ist es daher, die spezifischen Ressourcen und Qualitäten zu fördern und zum Ausdruck zu bringen. Auf der anderen Seite versuchen sie, den Jugendlichen auch eine Anbindung an andere Teile Straßburgs zu ermöglichen. Denn die spezifischen sozialen Codes hätten teilweise zur Folge, dass die Jugendlichen tendenziell unter sich bleiben und einen Austausch mit anderen Vierteln scheuen.
Perspektiven sozialer Initiativen
Um die quartiereigenen Qualitäten zu fördern, spielt auch die Beziehung und Haltung der Sozialarbeiter*innen zu den Bewohner*innen Hautepierres eine entscheidende Rolle. Den sozialen Initiativen ist es wichtig, nicht als hierarchisch übergeordnete Entscheidungsinstanz wahrgenommen zu werden oder als externer Verhandlungspartner. Vielmehr versuchen sie, Teil des sozialen Lebens zu sein und den Bewohner*innen zum Ausdruck ihrer eigenen Wünsche zu verhelfen. Sie fungieren damit als Sprachrohr oder auch als „Übersetzungsinstanz“, um die spezifischen Alltagssorgen und Bedürfnisse Hautepierres einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. So ist auch das Radio Hautepierre besonders auf die Bewohner*innen des Viertels zugeschnitten und beschäftigt sich mit Herausforderungen und Freuden des Alltags. Hier finden sowohl kreative Workshops statt als auch intensive Radioprogramme, die von den Anwohnenden mitgestaltet werden.

Um als Sprachrohr dienen zu können, ist die Beziehung zu den Bewohner*innen zentral. Hierbei spielt die Zeit eine entscheidende Rolle. Nur über längere Zeiträume und mit langfristigem Kontakt ließen sich vertrauensvolle Beziehungen zu den Anwohnenden aufbauen. Dies schließe die Bereitschaft, sich den spezifischen Handlungslogiken des Viertels zu öffnen, mit ein. Auf diese Weise könne die Distanz, die zwischen Bewohner*innen und Sozialarbeiter*innen besteht, überbrückt oder teilweise sogar abgebaut werden. Wichtig sei, dass die Initiativen ein natürlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens werden und sich eine Gewöhnung und Routine in der Beziehung zu Bewohner*innen herstellen lässt. Insbesondere im Umgang mit Kindern und Jugendlichen sei die Zeitlichkeit eine wichtige Komponente. Jugendliche bräuchten oft eine lange Zeit, um Vertrauen zu fassen und sich mit ihren Problemen an die Sozialarbeiter*innen zu wenden. Während dieses Prozesses sei es wichtig, dass die Initiativen Erreichbarkeit signalisieren und den Jugendlichen die Option offenlassen, auf sie zuzukommen.

Und wie sieht es nach der Schulzeit aus? Wollen die Jugendlichen das Viertel möglichst schnell verlassen oder wollen sie bleiben? Die Meinungen hierzu sind gespalten. Für viele junge Menschen scheint es ein wichtiges Ziel zu sein, es aus Hautepierre „hinauszuschaffen”, um einmal ein besseres Leben führen zu können. Auch der Wunsch, die eigene Familie aus dem Viertel zu holen und ihre Lebensumstände dadurch zu verbessern, scheint für viele ein wichtiges Ziel zu sein. Aber pauschalieren lässt sich das nicht, denn trotz Komplikationen im Alltag und dem schlechten Ruf von Hautepierre fühlen sich viele junge Menschen wohl und wollen auch in Zukunft hierbleiben. Insbesondere die Identifikation mit dem Viertel und eine starke Verbundenheit mit der Gemeinschaft führen dazu, dass die Jugendlichen auch nach Beendigung der Schule bleiben oder nach einer gewissen Zeit wieder zurückkehren. Damit verbunden ist auch der Wunsch, die Lebensumstände in Hautepierre selbst einmal zu verändern und zu einer Verbesserung beizutragen.

Die Sozialarbeiter*innen betonen schließlich alle, dass sie gerne im Viertel arbeiten. Trotz der Schwierigkeiten herrsche hier eine lebendige und positive Atmosphäre. Die Solidarität zwischen den Bewohner*innen, der Wunsch zu partizipieren und die Möglichkeit, Veränderungen zu bewirken, sind eine besondere Qualität der Arbeit in Hautepierre. Darüber hinaus sei es aber wichtig, die Komplexität des sozialen Lebens nicht zu reduzieren. Da französische Banlieues oft in den Medien seien, herrsche in der Gesellschaft teilweise die Annahme, ein gutes Verständnis für soziale Dynamiken zu haben. Die mediale Darstellung unterscheide sich aber teilweise erheblich von der tatsächlichen sozialen Praxis. Darüber hinaus seien auch die Dynamiken in Banlieues nicht pauschalisierbar und würden sich stattdessen stark voneinander unterscheiden. Um diese Komplexität anzuerkennen, sei es wichtig, die eigenen Grenzen im Kopf zu haben.

Die Herausforderung besteht also darin, hinter die Fassaden zu blicken – dorthin, wo die Menschen sind. Initiativen und engagierte Menschen in Hautepierre haben bereits einen Wandel angestoßen. Sie organisieren sich nachbarschaftlich und schaffen Kunst, Kultur und Orte des Miteinanders. Solidarität und Respekt werden großgeschrieben – so wird ein soziales Gefüge geschaffen, das Unterschiede zwischen Menschen überwindet und einen starken positiven Kontrast bildet zu den schwierigen Aspekten und Herausforderungen im Viertel. Doch was erwartet Hautepierre? Wie sieht die Zukunft des Viertels aus? Das zweite Stadterneuerungsprojekt wird planmäßig 2030 fertiggestellt – bis dahin lassen sich die Prozesse der Erneuerung und die Veränderung der Struktur des Quartiers beobachten. Aber auch den sozialen Wandel, der bereits im Gange ist und durch engagierte Menschen vor Ort vorangetrieben wird, lohnt es, im Blick zu behalten. Und schließlich wird es spannend sein, zu sehen, ob auch in Zukunft Bewohnende stolz erzählen werden: „Je suis pas Français, on est Hautepierrien!“
Kunst in Hautepierre: Das Werk des Graffitikünstlers Dan2
[Literaturverzeichnis]
  • [1] https://sig.ville.gouv.fr/uploads/fiches_qp/44_QP067011_LOGT_2022.pdf (zuletzt aufgerufen 28.10.2023)
  • [2] https://participer.strasbourg.eu/NPNRU (zuletzt aufgerufen 30.10.2023)
  • [3] Bien dans ma ville, 2023. Hautepierre. Verfügbar online: https://www.bien-dans-ma-ville.fr/strasbourg-67482/quartier-hautepierre/ (zuletzt aufgerufen 29.10.2023)
  • [4] https://www.bas-rhin.gouv.fr/contenu/telechargement/45690/294406/file/CP+Cit%C3%A9+de+l%27emploi+Hautepierre-Cronenbourg.pdf (zuletzt aufgerufen 30.10.2023)
  • [5] Vogelpohl, Anne, 2014. Stadt der Quartiere? Das Place-Konzept und die Idee von urbanen Dörfern. In Schnur, Olaf (Hg.), 2014. Quartiersforschung. Zwischen Theorie und Praxis. 2. Aufl. Wiesbaden: Springer VS.
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